Die Erzählungen aus dem Leben meiner Urgrosseltern und meiner Grosseltern machen einen grossen Teil meiner Kindheitserinnerungen aus. Ich durfte in einer Familie mit vier Generationen unter einem Dach aufwachsen, das Aufeinanderprallen von alt und neu, von traditionell und fortschrittlich hat mich sehr geprägt. Weil ich nicht möchte, dass diese kleinen Puzzleteile unserer Familiengeschichte verloren gehen, schreibe ich sie auf. Dabei ist mir bewusst, dass meine Erinnerung eben nur das ist: eine Erinnerung. Ich erhebe nicht den Anspruch auf die Wahrheit, wenn es denn eine solche überhaupt geben sollte.
Eine Geschichte wird in unserer Familie kolportiert, die geht so: Meine Urgrossmutter (geboren 1893) war eine sehr katholische Frau. Dies sagt noch nichts über ihren Charakter aus, denn katholisch heisst noch lange nicht christlich. Aber der Katholizismus hat ihr feste Leitplanken im Leben gegeben, so auch während des Nationalsozialismus. Sie soll den Briefträger, der als glühender Nazi bekannt war, täglich mit „Grüss Gott“ statt mit „Heil Hitler“ gegrüsst haben. Dieser habe ihr einmal entgegnet, im Innviertler Dialekt, den ich hier leider nicht wiedergeben kann: „Weisst Du, ‘Hacklin’*, wenn Du nicht schon so alt wärest, würde ich dich abholen lassen.“
Meine Urgrossmutter wusste ganz genau, was dieses lapidare „abholen lassen“ bedeutete, ebenso ihre Tochter, meine Grossmutter. Meine Mutter weiss es und ich weiss es auch noch. Ich weiss es, weil die Geschichten über den Krieg ein Teil meiner Kindheit sind. Ebenso wie die Bibel, die mir meine Urgrossmutter in der Endlosschlaufe vorgelesen hat und die Rosenkränze, die wir bei den Maiandachten gebetet haben.
Als Kind und vor allem als Jugendliche fand ich es unglaublich mutig von meiner Urgrossmutter dem Nazi Postler das „Heil Hitler“ zu verwehren. Das mag übertrieben klingen, sie hat ja nur „Grüss Gott“ gesagt und keine Juden versteckt. (Gab es überhaupt Juden in meinem Innviertler Heimatdorf?) Aber für mich war sie damit eine Heldin.
Heute, mit der Verantwortung für eine Familie und vor allem mit dem Wissen darum, dass wir nur dieses eine Leben haben – ein Wissen, das man erfahren muss, das man nicht lernen kann – mit dieser Lebenserfahrung sage ich: Es war leichtsinnig, ja sogar dumm von ihr, sich einer solchen Gefahr auszusetzten. Was hätte es gebracht? Sie wäre nur ein weiteres Opfer unter zig Millionen gewesen, die der Dummheit, der Raffgier und der Bestialität eines mörderischen Regimes und seinen willigen Handlanger*innen anheimgefallen wäre. Für ihre Familie wäre sie ein grosser Verlust gewesen. So wie Jägerstätter! Was fällt diesem Mann ein, seinen Glauben höher zu gewichten, als die Bedürfnisse und Nöte seiner Familie!**
Der Krieg, der hier in der Schweiz so ferne ist, war eine Konstante in den Erzählungen, die meine Kindheit begleiteten. Ich habe die Geschichten nie hinterfragt, die mein kluger, geschickter und fortschrittlicher Grossvater erzählt hat. Und wieso hätte ich ihm nicht glauben sollen? Manche seiner Berichte haben Ähnlichkeit mit den Abenteuern des „Braven Soldaten Schwejk“. Zum Beispiel die, als er im Hradschin, der Prager Burg, einsass, weil er bei der Wache eingeschlafen war.
Wie kommt es, frage ich mich heute, dass seine Kriegsgeschichten immer eine humoristische Note hatten. Hat er sich den Krieg schöngeredet? Kann ich ihm glauben, dass er sich bei der Schlacht um Berlin, zu der die verbliebenen Einheiten der Wehrmacht in Gewaltmärschen aus dem Osten zusammengezogen wurden, in einem Waldstück in einem Loch versteckt hat? Er sei darin eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als ein russischer Soldat ihm die Hand reichte, ihn herauszog und sagte: „Kamerad, der Krieg ist aus“. Um diesem Russen doch noch eine negative Konnotation zu geben, hat mein Grossvater erzählt, er (der Russe) hätte ihm die Uhr abgenommen.
Die Uhr abgenommen? Die Schlacht um Berlin verschlafen? Erst viele Jahre nach dem Tod meines Grossvaters hat es mich wie ein Blitzlicht getroffen, dass soetwas, wenn nicht ganz und gar unmöglich, so doch zumindest sehr unwahrscheinlich ist. Meiner Mutter habe ich mit meinem Verdacht den Frieden geraubt, den sie mit den Kriegserlebnissen ihres Vater gemacht hat.
* Mit „Hacklin“ wurde jeweils die Hausfrau des „Hackel-Gutes“ bezeichnet. Der Name bezeichnet das Haus und heisst daher „Hausname“. Er bleibt bei der Liegenschaft, auch wenn die Besitzerfamilie wechselt.
** Franz Jägerstätter, der wie Hilter in Braunau lebte, verweigerte aus Glaubensgründen den Kriegsdienst in der Wehrmacht, weswegen er hingerichtet wurde. Mit seiner Frau Franziska hatte er drei Mädchen. Bislang war Jägerstätter ausserhalb Österreichs kaum bekannt, das dürfte sich nun glücklicherweise mit dem Film „A Hidden Life“ von T. Malick ändern.