Er und Sie und Virginia Woolf

Während sie den Kindern das Frühstück richtet und gleichzeitig den Jüngsten Englischvokabeln abfragt, blinkt ein Bild auf ihrem Handy auf. Es zeigt ihn auf dem vom Nebel verhangenen Gipfel des Mount Fuji. Sie spürt sein Adrenalin und seine Euphorie im Text, den er unter das Bild gesetzt hat. Wie immer, wenn er eines seiner grossen Ziele erreicht hat, ist seine erste Botschaft an sie eine Liebesbezeugung. Als würde er alle Ziellinien dieser Welt nur für sie überqueren. Sie gönnt ihm jeden seiner Erfolge. Er arbeitet hart daran, hat kein Mitleid mit sich. Trotz all ihrer Freude an seinen bestandenen Abenteuern schwingt immer auch ein bisschen Traurigkeit mit. Während sie die Eier fürs Omelett aufschlägt, hat er wieder eines seiner Projekte umgesetzt. Sie möchte nicht auf den Mount Fuji, nicht in die Wüste und nicht in die Arktis. Sie möchte die Literaturgeschichte durchwandern, die Museen dieser Welt erkunden, die Wörter und Gedanken in ihrem Kopf zu Marathons und Ultramarathons aneinanderreihen.

Sie hat eine Eigenschaft, die ihm völlig fehlt. Sie ist geduldig, kann warten. Ausserdem muss sie keine Angst haben, dass ihr jemand zuvor kommen könnte. Die Gedanken in ihrem Kopf kennt nur sie, die archäologischen Objekte, auf die sie sich spezialisiert hat, haben schon 2000 Jahre auf jemanden gewartet, der sich ihrer annimmt, sie können noch ein paar Jahre länger warten.

Wenn Sie es aber manchmal nicht mehr aushält und am liebsten aus ihrem Alltag, den der Haushalt und die Kinder bestimmen, fliehen möchte, fleht sie das Schicksaal an, es möge ihr ein langes Leben vergönnen. Sie möchte noch so vieles. Aber die Kinder sind wichtiger. Sie sind im Hier und Jetzt. Sie hat Angst, dass ihr keine Zeit bleiben könnte. Der viel zu frühe Tod ihrer Tante, die sie schmerzlich vermisst, ist ihr persönliches Memento Mori und lässt sie regelmässig erschaudern. Andererseits denkt sie an ihre Grossmutter, die keinen einzigen ihrer Träume verwirklichen konnte und statt dessen ihr Leben in den Dienst anderer stellte. Die Grossmutter war es, die ihr zugehört hat, die sie gewärmt, getröstet, ihr das Gefühl gegeben hat, sie sei einzigartig.

Derart hin und her gerissen zwischen Selbstverwirklichung und Selbsthingabe macht sie das Naheliegendste. Sie schreibt über sich und ihre kleine Welt. Wie Jane Austen, die auch nicht aus ihrem Wohnzimmer hinaus gekommen ist. Denn, so konstatiert Virginia Woolf in ihrem vor bald neunzig Jahren erschienen Essay über Frauen und Literatur (A Room of One’s Own) lapidar: Nur wer Abenteuer erlebt, kann auch darüber schreiben. So ist es kein Wunder, dass Jane Austen nicht „Krieg und Frieden“ geschrieben hat, sondern Lew Nikolajewitsch Tolstoi.

Er und Sie und die Physik

Sie liebt es ihn zu beobachten, wenn sie in grösserer Runde sind. Besonders, wenn er sich mit einer Person unterhält, die ihm intellektuell nicht gewachsen ist. Dann umspielt ein Lächeln seinen Mund, das nur sie als leicht belustigt erkennen kann. Während sein Gegenüber weiterredet, ist er mit seinen Gedanken schon ganz weit weg; bei einem seiner unzähligen Projekte, die er mit nimmer endender Energie umsetzt und die ihn oft lange und weit von ihr weg führen. Sein Lebensweg ist von einem Aktionismus geprägt, bei dem niemand und schon gar nicht sie mithalten kann. Kaum beherrscht er eine Sportart, ein Gerät, eine Technik, sucht er sich eine neue Herausforderung. Nur in einem ist er konstant: in seiner unnachgiebigen Liebe zu ihr. Die Erzählungen von Bekannten, die sich von ihren Partnern getrennt haben, verblüffen sie. Es ist ihr unvorstellbar, dass er sie gehen liesse. Es gab Momente, in denen sie so verletzt war, dass sie ihn verlassen wollte. Er hatte es nie zugelassen. Dafür ist sie ihm sehr dankbar. Sie überstanden jede Krise und waren danach glücklicher als zuvor.

Sie würde sich selber nicht als besonders romantisch bezeichnen, sie ist eher praktisch veranlagt. Aber an die „Liebe auf den ersten Blick“ glaubt sie. Muss sie glauben. Denn genau das war ihr passiert. Was immer in dem Moment geschah, als er in ihr Leben trat, ihr Intellekt, auf den sie sich so viel einbildet, war sicher nicht beteiligt bei der Wahl dieses Mannes, an dem sie sich die Zähne ausbeisst. Es war die Chemie, die stimmte und es ist die Physik, die sie aneinander festhalten lässt. Eine Liebe so stark, dass sie selbst im grössten Streit noch immer gegenwärtig ist und es ihnen ermöglicht Arm in Arm einzuschlafen, auch wenn sie noch nicht wissen, wie es am nächsten Tag mit ihnen weitergehen soll.

Wenn sie ihn also so voller Bewunderung beobachtet, staunt sie jedes Mal aufs neue. Warum hat dieser Mann von allen Frauen auf der Welt ausgerechnet sie gewählt? Es ist ihr ein Rätsel. Könnte es sein, dass auch er nicht anders konnte? Dass er genauso wenig wie sie mit seinem Verstand entschieden hat? Dass auch er ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, wie der Nord und der Südpol zweier Magnete, die auf ewig miteinander verbunden sind?

Ein halbes Leben später

So traf sie ihn also wieder nach fünfundzwanzig Jahren. Sie hatte ihn schon gesehen, er hatte es nicht bemerkt. Aber sie wollte von ihm gesehen werden. Darum setzte sie sich an einen Tisch und wartete, bis er zu ihr kam. Sie wusste eigentlich nicht so genau, warum sie ihn unbedingt wieder treffen wollte. Sie waren ein paar Monate gemeinsam durchs Leben gegangen, nein, eher gestolpert und schliesslich auf die Nase gefallen. Sie hatte kaum Erinnerungen an diese kurze gemeinsame Zeit. Nur ein diffuses Gefühl. Etwas war schief gegangen. Erwartungen wurden nicht erfüllt. Die Kommunikation stimmte nicht. Und doch waren da kurze Episoden, die wie im Schlaglicht aufblitzen: er spielte Gitarre und sang für sie; sie an seiner Hand in einem Ballsaal. Und dann diese unglückselige Nacht in einem abgelegenen Haus in den Bergen. Die Worte, die er ihr in seiner Frustration an den Kopf warf, lassen sie heute noch zusammenzucken. Sie glaubt sich zu erinnern, dass sie mitten in der Nacht überstürzt aufbrach.

Diese Szene hatte sie vor Augen, als sie ihm nach all den Jahren, in denen sie geheiratet und zwei Kinder gross gezogen hatte, in einem Café am See gegenüber sass. Sie trug Sonnenbrillen, weil sie neuerdings empfindlich auf helles Licht reagierte. Aber auch, weil sie nicht zu viel von sich preisgeben wollte. Sie sah in seinem Gesicht den jungen Mann von damals, in den sie sich verliebt hatte; sah seinen aufmüpfigen, herausfordernden Gesichtsausdruck, an den sie sich gut erinnerte und die funkelnden Augen. Das Lächeln, das gleichzeitig warmherzig und spöttisch war.

Er erzählte, wie es ihm ergangen war in den vergangenen Jahren. Gab ihr keine Möglichkeit einzuhaken. Berichtete über die Prüfungen und Schicksalsschläge seines Lebens als wären es Stationen eines Postenlaufes, die es abzuhaken galt. Kein Wort glaubt sie ihm, wenn er sagt, das sei alles nicht so schlimm gewesen. Zu gut erinnert sie sich daran, wie er schon damals jede Unsicherheit überspielt hat. Er schützte seine Seele so wie sie ihre Augen schützte, die vielleicht ihre Sehnsucht verraten hätten.

Der Abschied fiel ihr schwer. Die Wörter waren ihnen ausgegangen und doch war gar nichts gesagt. Die fehlenden Worte fand sie in der Umarmung, die sie von ihm erbat. In diesen wenigen Sekunden, in denen sie sich in dieser unschuldigsten aller Berührungen begegneten, lag so vieles. Vergebung, Trost aber auch eine Sehnsucht. Sie wussten beide, sie würden das Versäumte nie nachholen können.

Epilog

„Fünfundzwanzig Jahre und sie vergingen dem Jaakob wie ein Traum, wie das Leben vergeht dem Lebenden in Verlangen und Erreichen, in Erwartung, Enttäuschung, Erfüllung und sich aus Tagen zusammensetzt, die er nicht zählt und von denen ein jeder nur das Seine bringt; die in Warten und Streben, in Geduld und Ungeduld einzeln zurückgelegt werden und zu grösseren Einheiten verschmelzen, zu Monaten, Jahren und Jahresgruppen, von denen am Ende eine jede ist wie ein Tag.“  Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Die Geschichten Jaakobs (Fischer, Frankfurt am Main 19998 Seite244)