Ein halbes Leben später

So traf sie ihn also wieder nach fünfundzwanzig Jahren. Sie hatte ihn schon gesehen, er hatte es nicht bemerkt. Aber sie wollte von ihm gesehen werden. Darum setzte sie sich an einen Tisch und wartete, bis er zu ihr kam. Sie wusste eigentlich nicht so genau, warum sie ihn unbedingt wieder treffen wollte. Sie waren ein paar Monate gemeinsam durchs Leben gegangen, nein, eher gestolpert und schliesslich auf die Nase gefallen. Sie hatte kaum Erinnerungen an diese kurze gemeinsame Zeit. Nur ein diffuses Gefühl. Etwas war schief gegangen. Erwartungen wurden nicht erfüllt. Die Kommunikation stimmte nicht. Und doch waren da kurze Episoden, die wie im Schlaglicht aufblitzen: er spielte Gitarre und sang für sie; sie an seiner Hand in einem Ballsaal. Und dann diese unglückselige Nacht in einem abgelegenen Haus in den Bergen. Die Worte, die er ihr in seiner Frustration an den Kopf warf, lassen sie heute noch zusammenzucken. Sie glaubt sich zu erinnern, dass sie mitten in der Nacht überstürzt aufbrach.

Diese Szene hatte sie vor Augen, als sie ihm nach all den Jahren, in denen sie geheiratet und zwei Kinder gross gezogen hatte, in einem Café am See gegenüber sass. Sie trug Sonnenbrillen, weil sie neuerdings empfindlich auf helles Licht reagierte. Aber auch, weil sie nicht zu viel von sich preisgeben wollte. Sie sah in seinem Gesicht den jungen Mann von damals, in den sie sich verliebt hatte; sah seinen aufmüpfigen, herausfordernden Gesichtsausdruck, an den sie sich gut erinnerte und die funkelnden Augen. Das Lächeln, das gleichzeitig warmherzig und spöttisch war.

Er erzählte, wie es ihm ergangen war in den vergangenen Jahren. Gab ihr keine Möglichkeit einzuhaken. Berichtete über die Prüfungen und Schicksalsschläge seines Lebens als wären es Stationen eines Postenlaufes, die es abzuhaken galt. Kein Wort glaubt sie ihm, wenn er sagt, das sei alles nicht so schlimm gewesen. Zu gut erinnert sie sich daran, wie er schon damals jede Unsicherheit überspielt hat. Er schützte seine Seele so wie sie ihre Augen schützte, die vielleicht ihre Sehnsucht verraten hätten.

Der Abschied fiel ihr schwer. Die Wörter waren ihnen ausgegangen und doch war gar nichts gesagt. Die fehlenden Worte fand sie in der Umarmung, die sie von ihm erbat. In diesen wenigen Sekunden, in denen sie sich in dieser unschuldigsten aller Berührungen begegneten, lag so vieles. Vergebung, Trost aber auch eine Sehnsucht. Sie wussten beide, sie würden das Versäumte nie nachholen können.

Epilog

„Fünfundzwanzig Jahre und sie vergingen dem Jaakob wie ein Traum, wie das Leben vergeht dem Lebenden in Verlangen und Erreichen, in Erwartung, Enttäuschung, Erfüllung und sich aus Tagen zusammensetzt, die er nicht zählt und von denen ein jeder nur das Seine bringt; die in Warten und Streben, in Geduld und Ungeduld einzeln zurückgelegt werden und zu grösseren Einheiten verschmelzen, zu Monaten, Jahren und Jahresgruppen, von denen am Ende eine jede ist wie ein Tag.“  Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Die Geschichten Jaakobs (Fischer, Frankfurt am Main 19998 Seite244)

 

 

Dieser Moment, wenn du merkst, dass du nicht so toll bist, wie du glaubst!

Ich an einem wunderschönen Sommermorgen: Glücklich und selbstverliebt pedale ich auf meinem Poschtivelo durchs Quartier. Beladen mit Broccoli, Salat und Milch.

Er im Sanitärwagen: kommt von rechts auf meine Strasse zu.

Ich, Gutmensch, weil Broccoli und Velo, werde nicht langsamer. Ich fahre schliesslich geradeaus.

Er gibt nach, lässt mich passieren.

Nach einigen Momenten des Triumpfes (Sieg Velo gegen Auto, Frau gegen Mann) realisiere ich: Er kam von rechts! Von rechts! ER hatte Vorrang!!

Ich werde langsamer. Glücksgefühl weg, Scham da; winke mit den Armen, rufe Entschuldigungen.

Er lässt das Fenster herunter; gibt beschwichtigende, versöhnliche Handzeichen und ruft mir: „Ist schon gut!“ nach.

Dieser Moment, wenn du realisierst, dass du einen Fehler gemacht hast, aber dein Gegenüber nimmt’s gelassen. Das ist ein schöner Moment.

 

Glossar:

Poschtivelo = Fahrrad zum Einkaufen mit Körben

Sanitär = Installateur

 

Von der Kunst im Augenblick glücklich zu sein, auch wenn es das Chaos ist.

Was werde ich nicht alles machen, wenn die Kinder aus dem Haus sind! Ins Museum werde ich gehen, statt auf den Spielplatz. Zu einer Lesung, statt ins Rutschenparadies. Mich schön anziehen und mit einer Handtasche ohne Darvida Krümel das Haus verlassen.

Geschichten werde ich schreiben! Ob ich dann noch so viele lustige und traurige Geschichten erlebe?

Auf den Markt werde ich gehen, frische Sachen einkaufen und neue Rezepte ausprobieren! Wer sitzt dann am Mittag hungrig und mit dem Neuesten vom Pausenhof beim Tisch?

Das Haus aufräumen! Wer sorgt dann für Unordnung?

Wenn ich auch angesichts der Berge von Schmutzwäsche manchmal verzweifle, spüre ich doch mit Gewissheit, dass ich nie mehr im meinem Leben so wichtig sein werde für das Glück anderer, ja, selber so glücklich sein werde, wie gerade eben jetzt.

Glossar

Darvida = Cracker; Kohlehydrate Notreserve.

„Fick Dich“ oder „Leck mich am Arsch“ – eine Frage des Alters? Beobachtungen zur angeblichen Verrohung unserer Sprache.

Gerade noch kann ich mich einbremsen. Fast hätte ich zu meinem 12–Jährigen in einem Anflug von Resignation „Ach fick dich doch“ gesagt. Was ist mit mir geschehen? Was ist mit dem Wort geschehen? Als knapp 20-Jährige hätte ich niemals gewagt das F* Wort auszusprechen. Heute bin ich 45 und permanent höre oder lese ich „Fick dich“ oder „Fuck“. Diese Fluchwörter kommen den heutigen Jugendlichen genauso leicht über die Lippen wie meiner Generation damals „Leck mich am Arsch“. Ich kann mir das nur damit erklären, dass das Wort seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Es steht nicht mehr nur für Sex. Es ist eine Ansammlung von Konsonanten mit wenigen Vokalen, die als Fluch ausgerufen, Befriedigung verschafft. Gut zum Dampf ablassen. Wie sonst könnte mein Teenager permanent „Fuck“ oder „Fick dich“ sagen, aber gleichzeitig ausrufen: „Bäh, seid ihr grusig!“, wenn mein Mann und ich uns küssen. Oder sich entsetzt umdrehen, wenn ich nackt aus der Dusche steige. Für ihn hat „ficken“ jeden Bezug zu Sex verloren.

Sprache wandelt sich. Jede Generation braucht ein gutes Sortiment an Wörtern, mit denen es die Erwachsenen brüskieren kann. Das hat auch hervorragend geklappt am Anfang. Als vor einigen Jahren, mein Sohn war gerade mal in der ersten oder zweiten Klasse, die ersten „schlimmen Wörter“ auf dem Schulhof fielen, war ich entsetzt. Das heftigste war wohl „Fick dini Mueter im Grab“. Ja, ich war schockiert – mein Bub auch. Wie reagieren? In meiner manchmal völlig weltfremden und naiven Kümmernatur habe ich ihm jeden einzelnen Fluch, jeden Ausdruck genau erklärt und wir sprachen darüber, wie verrückt das wäre, seine eigene Mutter im Grab zu ficken. Der arme Bub! Ich würde das nie wieder machen! Während die anderen Kinder ungeniert weiterfluchten, nichtsahnend, welchen Bullshit sie da von sich gaben, war mein Sohn der Einzige, der jedes einzelne Wort verstand. Er kränkte sich unendlich. Anstatt ihn in dieser Situation zu beschützen, ihn zu stärken, hatte ich ihn den notorischen Schulhof Bullies ausgeliefert. Nie mehr würde ich so handeln!

In dieser Zeit machte ich mir furchtbare Sorgen, dass der krude Pausenhofslang sich unmittelbar auf den Umgang der Kinder untereinander und in weitere Folge auch auf unsere Gesellschaft auswirken würde. Ich sah die hart erkämpfte (und noch immer nicht hergestellte) Geleichstellung von Mann und Frau den Bach hinabgehen. Frauen würden wieder als Schlampen verunglimpft und zu Sexobjekten reduziert werden. Die Errungenschaften der Schwulen und Lesben würden zunichte gemacht werden, das friedliche Nebeneinander von verschiedenen Nationen wäre gefährdet.

Jetzt ein paar Jahre später, muss ich sagen, ich habe mich völlig unnötig aufgeregt. Sprache verändert sich. Manche Wörter, aufgrund ihrer Schockwirkung gewählt, werden so inflationär gebraucht, bis sie niemanden mehr empören und sich bisweilen von ihrer ursprünglichen Bedeutung völlig loslösen. Manchmal werden sie auch in ihr Gegenteil verkehrt, was folgende Szene nahe legt, die sich unlängst in einem Zürcher Tram abgespielt hat. Ein paar Teenage–Mädchen begrüssten ihre zugestiegene Freundin mit den Worten: „Hey Bitch, wie goats?“ Dabei fielen sie sich herzlich lachend um den Hals, zückten ihre Smartphones und teilten diesen glücklichen Moment mit den anderen Bitches in ihrem Freundeskreis.

© Regina Hanslmayr

Der alte Mann und sein Hund.

Was also musste geschehen, dass ich meinen lang gehegten Wunsch, einen Blog zu schreiben, endlich in die Tat umsetze. Ich erzähle es Euch.

Auf meiner Joggingstrecke begegnet mir seit etlichen Jahren der gleiche Mann, der mit seinem Hund spazieren geht. Wir nicken uns stets freundlich zu, wenn sich unsere Wege kreuzen. Man sagt ja gemeinhin, dass sich Hundehalter und Hund ähnlich sehen. In diesem Fall stimmt dieses Klischee voll und ganz. Der Mann, etwas unordentlich und meist in grauen und schwarzen Kleidern; die Zähne in keinem guten Zustand. Der Hund, eine Art Schnauzer, ebenfalls mit struppigem grau-schwarzem Fell.

Nun passierte es, dass der alte Mann ohne Hund spazieren ging, was mich sehr erstaunte. Ich blieb stehen und fragte ihn, wo denn sein Hund sei. „Gestorben“, sagte der Mann, „nach dreizehn gemeinsamen Jahren.“ Ob er sich denn keinen neuen anschaffen wolle? „Nein, so einen gibt’s kein zweites Mal.“ Als er mir von sich und dem Hund erzählte, fasste er mir ganz leicht und sachte an meinen Oberarm. Dieser kurze intime Moment berührte mich im Innersten. Es war eine unsagbare Zärtlichkeit in dieser Geste und obwohl der Mann nicht besonders gepflegt war, empfand ich seine Nähe nicht als unangenehm.

Ich fragte mich, als ich dann weiterrannte, warum ich nicht zurückgewichen bin, wie in ähnlichen Situationen, in denen mir jemand zu nahe gekommen ist. Noch dazu, wo ich alleine unterwegs war und der Mann, wie schon gesagt, nicht den Eindruck machte, als ob er dem sozialen Mittelstand angehören würde. Der Unterschied lag wohl darin, dass die Berührung ohne jeden Hintergedanken, ohne jede böse Absicht ausgeführt wurde. Sie galt lediglich dem Zweck, einen Moment menschlicher Nähe herzustellen.

Heute habe ich den alten Mann wieder getroffen. Wie üblich nickten wir uns zu. Er trug eine neue Leine um den Hals und verwundert fragte ich ihn, ob er nun doch wieder einen Hund hätte. Er verstand mich wohl nicht und fragte mich seinerseits, ob ich einen Hund gesehen hätte; weiter vorne vielleicht? Wie der Hund denn aussähe, erkundigte ich mich. Er beschrieb einen grossen schwarzen Schnauzer. Da verstand ich plötzlich, dass er seinen verstorbenen Hund suchte. Sicherheitshalber fragte ich nach, wie alt der Hund denn sei. „Dreizehn Jahre“, entgegnete der Mann.

Es macht mich unendlich traurig, dass dieser alte Mann nach seinem Hund nun auch noch sein Gedächtnis verliert.

Diese Geschichte wollte ich Euch erzählen, und davon dass es möglich ist, dass wir Menschen uns ohne Arg begegnen.

© Regina Hanslmayr, im Oktober 2016